Ende des Zweiten Weltkriegs: „Ein Ausnahmezustand, der bis heute nachwirkt“
05.05.2025
Die Nachricht von Kapitulation und Kriegsende verbreitete sich im Mai 1945 schnell. Doch Frieden kehrte nicht sofort ein: Interview mit LMU-Historiker Johannes Großmann.
Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Doch Gewalt, Entwurzelung und die schwierige Aufarbeitung der NS-Verbrechen prägten die unmittelbare Nachkriegszeit. Historiker Professor Johannes Großmann, Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der LMU, ordnet ein, was das Kriegsende unmittelbar für die deutsche Bevölkerung bedeutete – und wie seine Folgen bis heute wirken.
Wie erfuhren die Deutschen am 8. Mai 1945, dass der Krieg zu Ende war?
Johannes Großmann: Meist über das Radio, das ja bereits in Echtzeit sendete. Auch Zeitungen erschienen teils mehrfach am Tag, etwa als „Extrablatt“. Die Nachricht von Kapitulation und Kriegsende verbreitete sich also sehr schnell.
Dort, wo die Alliierten einmarschiert waren – in Aachen etwa im Herbst 1944 –, herrschte bereits relativer Frieden. In den wenigen noch von der Wehrmacht gehaltenen Gebieten – darunter einige wenige Flecken in Bayern, Teile Österreichs, Böhmens und Sachsens – wurde die Bevölkerung dagegen bis zuletzt indoktriniert.
Die Gewalt blieb nach Kriegsende präsent
Wie erlebte die Bevölkerung die unmittelbare Nachkriegszeit?
Die meisten waren sicher erleichtert – aber auch im Unklaren darüber, wie sich die Alliierten ihnen gegenüber nun verhalten würden. Denn über den Vernichtungskrieg und die Gewalt gegen die Juden war laut neuerer Studien eine große Mehrheit der Deutschen durch direkte Erlebnisse, Schilderungen aus erster Hand und Gerüchte im Bilde – auch wenn die NS-Propaganda Informationen darüber konsequent zurückhielt.
Nach Kriegsende präsentierten die Alliierten Plakate mit Bildern aus den Konzentrationslagern, auf denen ausgehungerte Gestalten und Leichenberge zu sehen waren. Und sie zwangen Deutsche, sich Lager wie Buchenwald oder Dachau mit eigenen Augen anzusehen.
Die Gewalt blieb präsent – einerseits dadurch, dass viele durch erlebte oder selbst ausgeübte Gewalt abgestumpft waren, andererseits durch Waffen, die in private Hände gelangten und für Raubüberfälle und Plünderungen genutzt wurden. Auch Gewalt durch Besatzer spielte eine Rolle; sexuelle Übergriffe waren omnipräsent.
Johannes Großmann, Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der LMU
Nein, sie blieb präsent – einerseits dadurch, dass viele durch erlebte oder selbst ausgeübte Gewalt abgestumpft waren, andererseits durch Waffen, die in private Hände gelangten und für Raubüberfälle und Plünderungen genutzt wurden. In den ersten Nachkriegswochen zogen Gangs marodierend durchs Land: Manche waren Opfer des NS-Regimes mit Rachegefühlen, andere ideologisch Verblendete oder einfach nur Kriminelle. Auch Gewalt durch Besatzer spielte eine Rolle; sexuelle Übergriffe waren omnipräsent. Hier markierte das formelle Kriegsende aber tatsächlich einen Einschnitt, da die Alliierten nun sehr klare Befehle erließen, um die Gewalt gegen Zivilisten zu unterbinden – mit harten Strafen bis hin zu Todesurteilen. Schließlich konnten sie dem Vorwurf der Siegerjustiz nur dann glaubwürdig entgegentreten, wenn sie selbst keine Kriegsverbrechen verübten.
Auch in polnisch besetzten Gebieten oder der Tschechoslowakei ging der Krieg als Gewaltereignis weiter. Die historische Forschung ist sich heute einig, dass gerade Kriege, die weit über militärische Konflikte hinausgehen, etwa durch systematischen Genozid und Bevölkerungsverschiebung wie im Zweiten Weltkrieg, nicht einfach auf Knopfdruck enden.
Wie erging es Regimegegnern nach Kriegsende?
Nicht kompromittierte Eliten wurden gesucht, um unter alliierter Ägide Gesellschaft und Politik neu aufzubauen. Die Alliierten setzten für die lokalen Verwaltungen oft politische Akteure ein, die vom NS-Regime kaltgestellt worden waren: Sozialdemokraten, Zentrumspolitiker, aber auch nationalistische oder nationalliberale Kräfte, die aus monarchistischen oder religiösen Motiven gegen den Nationalsozialismus standen. Nicht alle waren lupenreine Demokraten.Gefragt waren „Remigranten“, die vor dem NS-Regime ins Ausland geflohen waren und nun oft mit guten Sprachkenntnissen zurückkehrten.
Manche wollten jedoch nicht zurückkommen, andere taten sich schwer, in eine Gesellschaft zurückzufinden, die sie teils immer noch als „Vaterlandsverräter“ stigmatisierte.
Vormalige Opfer des NS-Regimes und Vertriebene lebten nach Kriegsende oft entwurzelt in Deutschland.
Johannes Großmann, Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der LMU
Was geschah mit den überlebenden Opfern des NS-Regimes und Vertriebenen?
Vormalige Opfer des NS-Regimes und Vertriebene lebten nach Kriegsende oft entwurzelt in Deutschland. Zu den Millionen „dislozierter Personen“ zählten befreite KZ-Häftlinge – jüdische Überlebende, vom NS-Regime diffamierte oder queere Menschen – ebenso wie Millionen von Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern aus Russland, der Ukraine und anderen ehemals besetzten Gebieten. Gewalt und Bevölkerungsverschiebung waren während des Zweiten Weltkriegs Hand in Hand gegangen.
Doch viele wollten nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren: Die jüdische Bevölkerung war etwa in Polen, der Slowakei und Ungarn auch nach dem Krieg von Pogromen bedroht. Oft blieben Überlebende deshalb zunächst sogar in den ehemaligen Konzentrationslagern, die die Alliierten zu „Displaced Persons Camps“ umbauten. Diese schwer traumatisierten Menschen brauchten Versorgung und eine Lebensperspektive, die viele in der Immigration nach Palästina oder in die USA fanden. Auch ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene zögerten, nach Hause zurückzukehren, wo Gefangenschaft als Feigheit vor dem Feind und Kollaboration angesehen wurde. Viele blieben in Westeuropa oder emigrierten in die USA oder nach Kanada.
Die meisten Menschen nahmen die ausgestreckte Hand der Alliierten gerne an und arrangierten sich. Viele wollten ihre eigene Schuld nicht eingestehen und von den Gräueltaten nichts gewusst haben, dichteten Lebensläufe um oder gaben an, jemandem geholfen zu haben. Andere beriefen sich darauf, nur vom Regime verführt worden zu sein.
Johannes Großmann, Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der LMU
Wie verhielten sich deutsche Regimeanhänger nach dem Krieg?
Ein Weg, den manche NS- und Wehrmachtseliten aus Ausweglosigkeit oder ideologischer Verblendung wählten, war Selbstmord, oft kollektiv. Ein zweiter war die Flucht – etwa über die berühmte „Rattenlinie“, über Österreich und Italien nach Lateinamerika. Die meisten Menschen aber nahmen die ausgestreckte Hand der Alliierten gerne an und arrangierten sich.
Viele wollten ihre eigene Schuld nicht eingestehen und von den Gräueltaten nichts gewusst haben, dichteten Lebensläufe um oder gaben an, jemandem geholfen zu haben. Andere beriefen sich darauf, nur vom Regime verführt worden zu sein. In dieser Sichtweise wurden sie auch durch die Nürnberger Prozesse 1945 und 1946 bestärkt, bei denen vorrangig politische und militärische Führungseliten vor Gericht standen.
Die unmittelbare Nachkriegszeit war ein Ausnahmezustand, der für die weitere deutsche Geschichte elementar sein sollte. Viele Grundlagen der heutigen politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland gehen auf sie zurück.
Johannes Großmann, Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der LMU
Die Nachkriegszeit und ihre Folgen
Welche Bedeutung hat die unmittelbare Nachkriegszeit heute?
Sie war ein Ausnahmezustand, der für die weitere deutsche Geschichte elementar sein sollte. Viele Grundlagen der heutigen politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland gehen auf sie zurück – vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach dem Vorbild der britischen BBC über die Länder- und Kommunalverfassungen bis hin zum Grundgesetz. Auch die Umstellung der auf „totalen Krieg“ getrimmten Kriegswirtschaft auf eine exportorientierte Friedenswirtschaft wurde von den Alliierten begleitet.
Das kulturelle und wissenschaftliche Leben wurde neu aufgebaut. Besonders die Wiedereröffnung und Neugründung von Universitäten war den Alliierten wichtig. Sie waren überzeugt, dass nur Bildung ein demokratisches, friedfertiges Deutschland schaffen konnte.
Erst im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre entstand eine reflektiertere und selbstkritische Erinnerungskultur – oft begleitet von der Illusion, Deutschland sei dabei immer schon Vorreiter gewesen.
Johannes Großmann, Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der LMU
Der Prozess gegen den NS-Deportationsleiter Adolf Eichmann im Jahr 1961 in Jerusalem
Nach intensiver Erinnerung in der unmittelbaren Nachkriegszeit setzte mit der Etablierung der Bundesrepublik und der DDR ein eher allgemeines, ritualisiertes Gedenken an die „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ ein, begleitet von Amnestien und der Rehabilitierung ehemaliger NS-Täterinnen und -Täter. Eine kritische Auseinandersetzung, etwa an Schulen, blieb schwierig, da viele Lehrer, Bildungspolitiker und Verwaltungsbeamte selbst Teil des NS-Systems gewesen waren und wenig Interesse an Aufarbeitung hatten.
Eine Ausnahme bildete die historische Forschung. Das 1949 gegründete Institut für Zeitgeschichte in München etwa befasste sich schon bald mit dem Nationalsozialismus. Allerdings konzentrierte sich die Forschung zunächst auf prominente Täter und den Widerstand statt auf die breite Mitläuferschaft.
Ab den 1960er-Jahren begannen jüngere Generationen in Deutschland, ihre Eltern kritisch nach ihrer Rolle in der NS-Zeit zu fragen. Doch erst im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre entstand eine reflektiertere und selbstkritische Erinnerungskultur – oft begleitet von der Illusion, Deutschland sei dabei immer schon Vorreiter gewesen. Bewegungen wie die Geschichtswerkstätten in den 1980er-Jahren erschütterten lange gepflegte Mythen genauso wie die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung ab den 1990er-Jahren.
Das Bewusstsein um die deutsche Schuld wirkt fort – aber neben intensiver Aufarbeitung gab es von Beginn an auch Verharmlosung, Relativierung und Forderungen, einen „Schlussstrich“ zu ziehen. Was bleibt, ist ein breiter Konsens, dass politische Entscheidungen unter Berücksichtigung der NS-Vergangenheit getroffen werden müssen – besonders in der Außenpolitik.
Johannes Großmann, Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der LMU
Erinnerungskultur: Herausforderungen und Unterschiede
Das Bewusstsein um die deutsche Schuld wirkt fort – aber neben intensiver Aufarbeitung gab es von Beginn an auch Verharmlosung, Relativierung und Forderungen, einen „Schlussstrich“ zu ziehen. Was bleibt, ist ein breiter Konsens, dass politische Entscheidungen unter Berücksichtigung der NS-Vergangenheit getroffen werden müssen – besonders in der Außenpolitik.
Nachdem bis in die 1990er-Jahre mit Blick auf die NS-Vergangenheit der Grundsatz „Nie wieder Krieg“ gegolten hatte, begründete die Bundesregierung ihre aktive Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999 mit dem Argument „Nie wieder Auschwitz“.
Auch das Verhältnis zu Russland war lange von historischen Schuldgefühlen geprägt, bis der Angriff auf die Ukraine 2022 eine klare Positionierung erforderte – erneut unter Rückgriff auf die Lehren der Geschichte. Und nicht zuletzt prägt die Erinnerung an den Holocaust die Haltung Deutschlands im Nahostkonflikt.
News
Neueste Geschichte: Konservatismus, Kolonialismus und NS-Zeit im Fokus
Die westdeutsche Gesellschaft setzte auf Antitotalitarismus, während sich das sozialistische Regime in der DDR mit seinem antifaschistischen Selbstbild von Mitverantwortung für den Nationalsozialismus und seine Folgen freisprach. Die nach 1990 im Osten institutionalisierte westdeutsche Erinnerungskultur stieß deshalb nicht überall auf Akzeptanz – ein Faktor, der heute zur Stärke der AfD in Ostdeutschland beiträgt. Auch andere Unterschiede bestehen: Frauen interessieren sich tendenziell stärker für Erinnerungskultur als Männer. Jüngere engagieren sich tendenziell mehr als Ältere. Und ganz entgegen der Klischees zeigen Menschen mit Migrationshintergrund häufig besondere Empathie für die Opfer des Nationalsozialismus.
Welche Chancen bieten moderne Technologien heute, da Zeitzeugen schwinden?
Sie können sicher der politischen Bildung dienen. Aber wenn etwa Hologramme von Holocaust-Überlebenden KI-generierte Antworten geben, sehe ich als Historiker Probleme hinsichtlich der Authentizität. Doch die Erinnerung an den Nationalsozialismus wird uns auch ohne persönliche Erinnerungen nicht verlassen. Zum einen rücken die Kinder von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mit ihrer Perspektive in den Fokus. Zum anderen sind die bitteren Erfahrungen und Folgen jener Zeit viel zu sehr in unsere Kultur, Politik und Wirtschaft eingewoben – auch durch die Weichen, die die Alliierten damals gestellt haben.
Weitere Berichte zur Nachkriegszeit und über den Umgang mit dem Holocaust: